Ein deutsch-französischer Nach- und Aufruf
Als junger Bundestagsabgeordneter gründete Wolfgang Schäuble gemeinsam mit dem Bürgermeister von Colmar Joseph Rey den badisch-elsässischen Gesprächskreis. Mit den letzten Wahlkampfauftritten seines Lebens unterstützte er pro-europäische Parlamentskandidaten im Elsass und in Lothringen. Geboren im Krieg, aufgewachsen in der französischen Besatzungszone, gewählt in der südbadischen Grenzregion war ihm die Freundschaft mit Frankreich zeit seines Lebens Herzensanliegen - als Fundament für ein starkes Europa.
Wolfgang Schäuble pflegte als Minister engsten Austausch mit den jeweiligen französischen Pendants. Als erster deutscher Finanzminister nahm er an einer Sitzung des französischen Kabinetts im Élysée-Palast teil. Er formulierte den Anspruch, französische und europäische Interessen stets mitzudenken: „Wenn eine Lösung für Europa gut ist, dann ist sie gut für Deutschland. Und wenn etwas für Europa schlecht ist, kann es nicht gut für Deutschland sein.“ Deutsche Einheit und europäische Integration, offene Grenzen und gemeinsame Sicherheit, ein starker Euro als Garant für Stabilität - diese Grundüberzeugungen prägten sein Handeln.
Als Bundestagspräsident leitete Wolfgang Schäuble am 25. März 2019 in Paris gemeinsam mit dem Präsidenten der Assemblée nationale Richard Ferrand die Konstituierung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung - als gemeinsame Kammer aus 50 deutschen und 50 französischen Abgeordneten einzigartig auf der Welt. Zuvor hatten die beiden Präsidenten das Deutsch-Französische Parlamentsabkommen unterzeichnet. Mit ihm wurde 56 Jahre nach dem Élysée-Vertrag als Regierungsabkommen die deutsch-französische Freundschaft um die parlamentarische Dimension erweitert und so auf eine völlig neue Ebene gehoben. Ohne den leidenschaftlichen Einsatz von Wolfgang Schäuble mit seinem Kollegen in Paris wäre all das nicht möglich geworden.
Noch in seinem letzten Interview – erschienen am 24. Dezember 2023 zwei Tage vor seinem Tod – forderte Wolfgang Schäuble eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks als „deutsch-polnisch-französischen Motor für Europa“ - und zur Stärkung europäischer Verteidigungsfähigkeit: „Lasst uns diesen europäischen Weg gehen. Nur gemeinsam kann Europa wirtschaftlich, militärisch und auch umweltpolitisch eine Rolle in der Welt spielen.“
Das ist sein Vermächtnis. Und so findet der Trauerstaatsakt zu seinen Ehren aus gutem Grund am 22. Januar statt, dem „Deutsch-Französischen Tag“ - exakt 61 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags und auf den Tag genau sechs Jahre, nachdem Wolfgang Schäuble als erster Bundestagspräsident am 22. Januar 2018 vor der Assemblée nationale gesprochen hat. In dieser Rede bezeichnete er die deutsch-französische Freundschaft als „Geschenk aus der Geschichte“. Es sei jedoch der Weitsicht mutiger Menschen zu verdanken. Nach den Weltkriegen und den deutschen Verbrechen hätten sie Wege zur Versöhnung gewiesen. Wolfgang Schäuble erklärte: „Was erreicht wurde, ist uns Ansporn.“ Und weiter: „Nutzen wir unsere Freiheit heute. Nehmen wir unsere Verantwortung so couragiert wahr wie die Unterzeichner damals. Gemeinsam!“
Wolfgang Schäuble ist dieser Verantwortung mehr als gerecht geworden, geradlinig und unermüdlich. Der Trauerstaatsakt im Bundestag mit Emmanuel Macron ist aber mehr als die Würdigung großer Verdienste: Er ist Auftrag und Appell: Auftrag an uns als politisch und gesellschaftlich Verantwortliche, in enger Partnerschaft die europäischen Visionen mit Leben zu füllen. Und Appell an alle jungen Menschen, diese europäische Idee mit Begeisterung weiter zu tragen. Frieden, Freiheit und Freundschaft sind nicht selbstverständlich, sie müssen immer wieder neu erarbeitet werden. Und dabei ist die europäische Integration bei weitem nicht vollendet, sie muss entschieden weiter geformt werden. Von Herzenseuropäern - so wie Wolfgang Schäuble einer war.
In großer Dankbarkeit für sein Lebenswerk werden wir Wolfgang Schäuble ein ehrendes Andenken bewahren. Wir verneigen uns vor einem großen Deutschen, einem großen Freund Frankreichs und vor einem großen Europäer. Merci du fond du cœur, Wolfgang Schäuble.
Andreas Jung, Brigitte Klinkert, Dr. Franziska Brantner, Sabine Thillaye, Michael Link, Christophe Arend, Dr. Nils Schmid, Sylvain Waserman, Armin Laschet, Frédéric Petit, Chantal Kopf, Patrick Hetzel, Dr. Reinhard Brandl, Vincent Thiébaut, Christian Petry, Dr. Volker Ullrich, Sandra Weeser, Angelika Glöckner, Gunther Krichbaum, Nicole Westig, Markus Uhl
(ehem.) Vorstandsmitglieder der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung aus Deutschem Bundestag und Assemblée nationale
Christine Lagarde
Präsidentin der Europäischen Zentralbank
Richard Ferrand, François de Rugy
Präsidenten der Assemblée nationale a.D.
Frz. Minister für Wirtschaft, Finanzen und industrielle und digitale Souveränität
Sylvie Goulard, Michel Sapin
frz. Minister a.D.
Prof. Dr. Frank Baasner (Deutsch-Französisches Institut), Jean-Dominique Giuliani (Fondation Robert Schuman), Dr. Claire Demesmay, Dr. Margarete Mehdorn, Jochen Hake (VDFG für Europa e.V.), Jean Michel Prats (FAFA pour l’Europe)
Zivilgesellschaft